Artikel Visionen Ausgabe Sep/Okt/Nov 2023
„Erleuchtung kann jeder“
Interview mit Christian Meyer über sein neues Buch.
Christian, du hast ein neues Buch geschrieben, es sei dein wichtigstes Buch, sagst du. Worum geht es darin?
Seit ein paar Tausend Jahren streben Menschen nach Erleuchtung und finden sie auch. Bei uns in Europa fing es wahrscheinlich in Griechenland an, mit Pythagoras vor 2500 Jahren. Der hatte einen Ashram und lehrte Erleuchtung. Und wie sieht es heute aus? Spiritualität hat sich verbreitet, aber wird sie nicht immer flacher? Menschen meditieren, vielleicht, um mit dem Alltag besser zurechtzukommen? Haben die Menschen vergessen, dass es eigentlich um viel, viel mehr geht? Um die Erfahrung von Unendlichkeit, Grenzenlosigkeit, einer Stille des Verstandes, in der sich ein unendlicher Frieden und tiefe Glückseligkeit ausbreiten? Es gibt bisher kein Buch, das klar, nachvollziehbar und überzeugend zwei Fragen beantwortet:
- Was ist Erleuchtung? Wie verändert sich das Erleben und die psychische und geistige Struktur, was bedeutet das Verschwinden der Ich-Illusion? Wie verändert sich dann das Leben?
- Was genau muss und kann getan werden, um Erleuchtung zu finden? Was muss und kann getan werden, um danach das erleuchtete Sein, das erleuchtete Leben zu stabilisieren und dauerhaft werden zu lassen?
Mein neues Buch beantwortet diese beiden Fragen, und zwar viel umfassender, vollständiger als in meinen bisherigen Veröffentlichungen.
Kannst du in Kürze kurz darstellen, was Erleuchtung ist?
Der Mensch vor der Erleuchtung nimmt innerlich Gedanken war – ein Philosoph hat mal gesagt, ich denke, also bin ich – Gefühle und Empfindungen des Körpers und andere Sinne. Er denkt unaufhörlich, auch wenn 98 % der Gedanken am Tag ganz überflüssig waren, vielleicht sogar lästig. An schlechten Tagen sind es 100 %. (😉). Der Mensch weicht der Leere aus, weil sie ihn an den Tod erinnert und furchtbare Angst macht. Die Angst vor dem Nicht-Sein, die Angst vor dem Tod. Vielleicht denken einige Leserinnen, Angst vor dem Tod hätten sie nicht mehr. Dann empfehle ich einmal folgendes zu tun: Richte die Aufmerksamkeit nach innen mit der Frage: „Wie tief ist das, was ich fühle, wie tief ist das, was da drunter ist?“ Sobald du dich auf dieses Tiefere einlässt, wird dir mulmig, dann kommt die Angst, dich in der Leere aufzulösen. Das ist die Angst vor dem Tod.
Im Prozess der Erleuchtung durchdringt der Mensch diese Todesangst. Er erfährt ein Sinken in die innere Tiefe, etwa über 30 Minuten, und dann wird es zu einem Schweben, der Verstand wird still, er erfährt Frieden und Grenzenlosigkeit. Tiefer als Verstand, Sinnesempfindungen und Gefühle, ist ein tieferer Raum, der noch nie wahrgenommen wurde, nicht wirklich ein Raum, sondern du selbst. Dies ist Erfahrung und reine Gegenwärtigkeit. Der Verstand, der sonst immer plappert und immer Vergangenheit oder Zukunft ist, ist still. Reiner, zeitloser, unbegrenzter Augenblick.
Erleuchtung ist, wenn diese neue Erfahrung nicht nur einige Wochen anhält, sondern das ganze weitere Leben bestimmt, immer wieder still, immer wieder unendliche Weite, Frieden und Glückseligkeit. Ich betone noch einmal: Das ist meine eigene Erfahrung, und die Erfahrung von Hunderten meiner Schülerinnen und Schüler. Dadurch ist das Wissen über Erleuchtung immer mehr gewachsen. Wir erforschen das, wissenschaftlich und empirisch. Das alles wird im Buch Schritt für Schritt dargestellt zusammen mit den Erfahrungen, die die Leserin zum Teil selbst entdecken kann.
Du selbst hast es als zweite Frage zu Beginn formuliert: Wie ist der Weg dahin?
Für diese Antwort, eben weil sie nur ganz praktisch gegeben werden kann, sind im Buch, einschließlich der Übungen, fast 170 Seiten. Für diejenigen, die meine 7 Schritte zur Erleuchtung kennen etwa durch mein älteres Buch „Ein Kurs in wahrem Loslassen“ oder durch den dazugehörigen Onlinekurs (www. Zeitundraum.org), oder indem sie überhaupt meine Arbeit durch Retreats kennen: Die jetzige Darstellung geht weit darüber hinaus. Vor allem sind die inneren Haltungen hinzugekommen: 1. die Ausrichtung auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit, 2. die Liebe, 3. das Verlangen nach Freiheit und 4. die Hingabe.
Ein exemplarischer Punkt: Zur Erleuchtung findet man durch vollständiges Loslassen, durch die Erfahrung, da ist kein Ich, das etwas tut. Dennoch sind alle Übungen auf den spirituellen Wegen praktisch Übungen mit der Struktur: Ich-tue-etwas-um-etwas-zu-bewirken. Das Tun sei absichtslos, heißt es, aber es hat weiterhin diese Struktur. Die Übung laufe inzwischen automatisch ab, heißt es dann auch. Aber auch dann hat sie weiterhin dieselbe Struktur, auch wenn dies unbewusst geschieht. Den Atem beobachten, Gehmeditation hat diese Struktur. Yoga hat diese Struktur. Vorgeschriebene Bewegungen, um zu bewirken, dass der Körper sich löst und die Haltung unter größere Kontrolle kommt. Für die Erleuchtung muss diese Struktur zerstört und nicht verstärkt werden. Kann man also gar nichts tun? Doch, weil die gesamten Denk- und Bewegungsprogramme „von alleine“ ablaufen. Die Anspannung im Bauch, um zu bewirken, dass Gefühle kontrolliert und begrenzt bleiben, ist ein Tun, um etwas zu bewirken. Nötig sind Übungen des Geschehen-Lassens, Experimente des Lösens. Sie gibt es, und die daraufhin entstehenden Erfahrungen bestätigen: Erleuchtung geschieht. Immer wieder. In meinem letzten Sommer-Retreat vor drei Wochen, und im vor mir liegenden zweiten Sommer-Retreat.
Du sagtest, dass es dein wichtigstes Buch sei, meinst du das deswegen, weil du hier die spirituelle Arbeit zum ersten Mal VOLLSTÄNDIG darstellst?
Ja, das wäre Grund genug. Aber es gibt noch etwas Zweites:
Ich erlebe einen unglaublichen Widerspruch: in meinen Seminaren und Retreats finden regelmäßig Menschen Erleuchtung, ihre Zahl geht in die Hunderte. Ich mache 18-Monatstrainings nur für Menschen, die Erleuchtung gefunden haben, zu 98 % eigene Schülerinnen und Schüler, um erleuchtetes Sein zu vertiefen und ins Leben, in den Alltag zu bringen. Diese Trainings sind sicher einzigartig.
Auf der anderen Seite und das ist die Tragödie: vor gut 20 Jahren sind hier im Westen wieder erleuchtete spirituelle Lehrerinnen und Lehrer aufgetreten, mit dem Anspruch, mehr und mehr Menschen zur Erleuchtung zu verhelfen. Inzwischen sehen wir: Dieser Anspruch wurde nicht eingehalten, oft haben Menschen resigniert. Erleuchtung war in den 70er und 80er Jahren ein verbreitetes gesellschaftliches Thema, 1979 hätten wir mit Karl-Friedrich von Weizsäcker fast einen erleuchteten Bundespräsidenten gehabt, wenn er nicht abgelehnt hätte. Heute ist Erleuchtung gesellschaftlich ein Tabu, und die Nische, die es sich erobert hat, ist kleiner geworden.
Das ist der Widerspruch zu meiner eigenen Erfahrung, dass in den Seminaren und Retreats, und auch darüber hinaus, im Kontext meiner Arbeit, in den Bewusstheitsgruppen, Erleuchtung regelmäßig und sogar häufiger geschieht.
In dem neuen Buch mit dem ernst gemeinten Titel „Erleuchtung kann jeder. Eine Anleitung für deine wahre Transformation“ habe ich die beiden Grundfragen, was Erleuchtung ist, und was man tun kann, auf eine Weise beantwortet, dass es jeder und jede versteht. Ganz bewusst ohne Esoterik, Mystizismus und Geheimniskrämerei. Nachvollziehbar, im Einklang mit Wissenschaft, mit konkreten praktischen Schritten und Veränderungen, die nichts mit plattem Einüben zu tun haben.
Das Buch ist eine Einladung an alle spirituellen Lehrer und Lehrerinnen der verschiedenen spirituellen Wege, Satsang-Lehrer, Zenlehrerinnen, buddhistische Meditationslehrer gemeinsam nachzudenken: wie können wir unseren spirituellen Weg so wirksam machen, dass tatsächlich mehr Menschen das Ziel der Erleuchtung auch tatsächlich erreichen?
Und es ist eine Einladung an alle Menschen, sich zu fragen: Was ist der Sinn meines Daseins? Ist in meinem Leben wirklich genug Tiefe und genug Glück? Ist mein Leben das, was ich mir mal vorgestellt habe? Oder könnte der Weg zur Erleuchtung und die Erleuchtung selbst mein Leben bereichern und wertvoller machen? So könnte das Buch eine wirkliche Veränderung im gesellschaftlichen Klima bewirken.
Manchmal taucht der Einwand auf, als Erleuchteter sollte man doch nichts mehr wollen. Heißt das, dass einem alles egal ist? Das ist ebenfalls eins der vielen Missverständnisse. Ja, es wäre mir wichtig, dass das Buch sich wirklich verbreitet. Aber will ich es FÜR MICH? Nein, wenn es um mich ginge, würde ich aufhören zu arbeiten, würde ich das Leben genießen und mich um meine kranke Lebensgefährtin kümmern. Das wäre Glück genug, und mehr Glückseligkeit allemal. Die Alternative wäre ja, es ist mir egal, ob Erleuchtung als gesellschaftliches Thema sich verbreitet und ob Menschen ihre tiefe Sehnsucht nach Frieden und Erfüllung realisieren können oder nicht. Nein, das ist mir nicht egal. Nicht weil ICH mir wichtig bin, sondern weil DIE MENSCHEN und die Erleuchtung mir am Herzen liegen.